Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen, Mädchen und LGBTIQ* ist in Mexiko weit verbreitet. Der Staat hinkt bei Bekämpfung und Prävention hinterher.
Von Johanna Wild und Laura Kühn
Morde, sexualisierte Gewalt, häusliche Übergriffe, Diskriminierung, Stigmatisierung, Ausgrenzung oder öffentliche Anfeindungen: Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen, Mädchen und LGBTIQ* ist in Mexiko in vielen Formen systematisch, weit verbreitet und alltäglich. Zwischen 2018 und 2020 wurden landesweit über 11.200 Frauen und Mädchen getötet – durchschnittlich elf pro Tag. Darüber hinaus gelten über 22.000 Frauen und Mädchen als verschwunden. Im selben Zeitraum gingen bei den Behörden fast 151.000 Anzeigen wegen Sexualstraftaten ein, darunter über 38.000 Vergewaltigungen. Hinzu kommen mehr als 610.000 Fälle häuslicher und fast 9.500 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt. Auch wenn die Behörden zu diesen Fällen keine Auskunft über die Geschlechtsidentität der Betroffenen geben, ist davon auszugehen, dass sich die Gewalttaten überwiegend gegen Frauen und Mädchen richteten. Das Ausmaß der Gewalt gegen die LBGTIQ*-Community ist besonders schwer einzuordnen, da die mexikanischen Behörden hier keine spezifischen Daten zu Gewaltübergriffen erfassen. Laut zivilgesellschaftlichen Organisationen fielen zwischen 2018 und 2020 jedoch mindestens 288 LGBTIQ* tödlichen Hassverbrechen zum Opfer.
Die Dunkelziffer an Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen sowie LGBTIQ* liegt vermutlich jedoch deutlich höher als die dokumentierten Übergriffe. Doch auch anhand der registrierten Fälle zeigt sich: Die Zahl getöteter oder verschwunden gelassener Frauen steigt seit den 1990er Jahren rapide an. Seit Beginn der Corona-Pandemie haben sowohl die Anzahl der Morde als auch die Gewalt im häuslichen Umfeld deutlich zugenommen. Insbesondere verhängte Quarantänemaßnahmen und Ausgangsbeschränkungen haben das Risiko für Frauen und Mädchen, Opfer häuslicher Gewalt zu werden, verschärft. Dies gilt auch für LGBTIQ*, die in Zeiten der Pandemie noch häufiger Diskriminierung und Gewalt im häuslichen Umfeld ausgesetzt sind.
Die Gewaltspirale steht auch in engem Zusammenhang mit dem hohen Maß an Straflosigkeit. So wurden lediglich bei etwa einem Viertel aller zwischen 2018 und 2019 begangenen Feminizide die Verantwortlichen verurteilt – in 480 von 1.838 Fällen. Allerdings untersuchten die Behörden nur rund jeden vierten tödlichen Übergriff auf Frauen und Mädchen überhaupt als Feminizid. Bei allen anderen Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen ist die Straflosigkeit noch deutlich höher.
Gesellschaftlich tiefsitzende Geschlechterstereotype, Machismus und Paternalismus fördern die Gewalt zusätzlich. Sie führen dazu, dass Frauen und Mädchen sowohl in der Öffentlichkeit als auch durch staatliche Institutionen herabgewürdigt und diskriminiert werden. Doch zunehmend organisieren sich Frauen gegen das extreme Gewaltausmaß.
Anhaltende Proteste
2020 und 2021 demonstrierten Millionen von Frauen und Mädchen in ganz Mexiko, um auf ihre besondere Gefährdungslage aufmerksam zu machen und entsprechende Schutzmaßnahmen einzufordern. Immer wieder wurden dabei Protestierende öffentlich diskriminiert, stigmatisiert, eingeschüchtert, verbal und physisch angegriffen – auch von Behörden- und Regierungsvertreter*innen.
Demgegenüber stehen internationale Übereinkommen, etwa die UN-Frauenrechtskonvention CEDAW, und daraus abgeleitete Gesetze sowie eingerichtete Behörden, die gezielt zur Bekämpfung und Prävention von Gewalt gegen Frauen beitragen sollen. Dazu zählen der 2012 eingeführte Straftatbestand Feminizid, Gesetzeserweiterungen sowie spezifische Untersuchungsprotokolle und Sonderstaatsanwaltschaften, die die Aufarbeitung von Übergriffen gegen Frauen und Mädchen verbessern sollen. Doch die Zahlen zeigen, dass die bisherigen Instrumente nicht ausreichen. Der mexikanische Staat ist verpflichtet, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Gewalt zu verhindern, Straftaten aufzuklären und die Täter zu bestrafen.
Emblematische Fälle wie Campo Algodonero (2001) und Atenco (2006), die der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte 2009 und 2018 verhandelte, haben die vielschichtigen Formen der Gewalt gegen Frauen – insbesondere Folter, sexualisierte Gewalt, gewaltsames Verschwindenlassen und Ermordung – exemplarisch aufgezeigt. Trotz der Urteile, die den mexikanischen Staat zur Aufklärung, Ermittlung und Verurteilung der Täter – einige von ihnen im Staatsdienst – sowie zur Anerkennung und Entschädigung der Opfer und ihrer Angehörigen verpflichten, sind die Vorgaben des Gerichtshofs bis heute nicht vollständig umgesetzt.
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Johanna Wild (Amnesty International Deutschland) und Laura Kühn (Peace Brigades International, Deutscher Zweig) moderieren auf der Mexiko-Tagung am 31. März um 19 Uhr das Panel „Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen, Mädchen und LGBTIQ*: Anhaltende Herausforderungen bei der Bekämpfung und Prävention“.
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Infos und Programm: https://www.mexiko-koordination.de/2022/02/28/online-tagung-menschenrechte-in-mexiko/?l=de
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