74 Analysen und Empfehlungen, konkret und auf den Punkt, Länder und Themen – darin zeigt sich die geballte Expertise der über 50 Mitgliedsorganisationen des FORUM MENSCHENRECHTE*. Diese „Aide-Mémoires“ beruhen auf den Erkenntnissen der Mitgliedsorganisationen und oft auch deren lokalen Partnerorganisationen in vielen Ländern der Welt. Sie werden jährlich erstellt und der Außenministerin persönlich übergeben. Damit verbinden wir die Erwartung, dass nicht nur das Auswärtige Amt und die deutschen Botschaften vor Ort, sondern alle verantwortlichen Ministerien in ihrer Arbeit auf diese Analysen zurückgreifen und die Empfehlungen für eine kohärente und glaubwürdige deutsche Menschenrechtspolitik auch umsetzen.
Erstmals veröffentlicht nun das FORUM MENSCHENRECHTE den größten Teil der am 27. August 2024 an Außenministerin Baerbock übergebenen Aide-Mémoires. Einige weitere bleiben vertraulich, vor allem um Menschenrechtsverteidiger*innen oder Partnerorganisationen vor Ort nicht zu gefährden.
Wir veröffentlichen an dieser Stelle das Aide-Mémoire zur Menschenrechtssituation in Mexiko, eingebracht von peace brigades international – Deutscher Zweig, Amnesty International Deutschland, Brot für die Welt und Misereor in Zusammenarbeit mit der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko.
Aide-Mémoire aus Anlass des Gespräches mit Außenministerin Annalena Baerbock: Situation der Menschenrechte in Mexiko & Handlungsempfehlungen
Organisationen: peace brigades international – Deutscher Zweig, Amnesty International Deutschland, Brot für die Welt, Misereor (in Zusammenarbeit mit der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko)
Beschreibung der Menschenrechtsproblematik:
Die menschenrechtlichen Herausforderungen sind im letzten Jahr der Amtszeit von Präsident López Obrador gewachsen. Nach offiziellen Angaben kam es im Jahr 2023 zu 30.523 Tötungsdelikten. In 10 Fällen pro Tag handelt es sich um Frauen und Mädchen, die tödlicher Gewalt zum Opfer fallen. Letztere bleibt nach wie vor nahezu vollständig straflos. Menschenrechtsverteidiger*innen (MRV) und Journalist*innen sind weiterhin mit Stigmatisierung, Diffamierung, Drohungen und Übergriffen konfrontiert. Am 2. Juni 2024 gewann Claudia Sheinbaum mit 59,36% der Stimmen die Präsidentschaftswahlen in Mexiko. Die Regierungskoalition erreichte eine qualifizierte Mehrheit im Kongress. Vorausgegangen war ein gewalttätiger Wahlkampf, bei dem über 30 Kandidat*innen aller Parteien, insbesondere auf lokaler Ebene, ermordet wurden.
Militarisierung
Die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit wurde unter der Regierung López Obrador stark vorangetrieben. 2024 stieg das Budget der Landstreitkräfte um 81% und jenes der Marine um 72%. Im Gegensatz zu anderen Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung muss das Militär weiterhin kaum Rechenschaft über interne Strukturen und Mechanismen sowie die Verwendung öffentlicher Gelder ablegen und hat gleichzeitig stark an Funktionen und Zuständigkeitsbereichen, insbesondere im zivilen Bereich, gewonnen. Die neu gewählte Präsidentin erklärte bereits, dass die unter Präsident López Obrador geschaffene, bisher zivile, Nationalgarde (Guardia Nacional) – trotz erheblicher Kritik von nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen – durch eine Verfassungsänderung zukünftig ganz dem Militär unterstellt werden soll. Seit Gründung der Nationalgarde, die zum großen Teil aus ehemaligen Angehörigen des Militärs besteht, registrierte die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) bis April 2024 mindestens 1.912 Beschwerden aufgrund von Menschenrechtsverletzungen durch die Nationalgarde. Im Rahmen der Überprüfung Mexikos im UPR-Verfahren im Januar 2024 forderten diverse Staaten die mexikanische Regierung dazu auf, Maßnahmen im Zusammenhang mit den menschenrechtlichen Auswirkungen der Militarisierung zu ergreifen. Die Empfehlungen, die von der mexikanischen Regierung nicht angenommen wurden, betreffen dabei viele der skizzierten Probleme: u.a. die notwendige Demilitarisierung der öffentlichen Sicherheit bzw. den schrittweisen Rückzug der Streitkräfte aus zivilen Aufgaben, die Einrichtung ziviler Mechanismen für die Rechenschaftspflicht des Militärs und die Untersuchung von Fällen unrechtmäßiger Überwachung von Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen.
Rechtsstaatlichkeit
Besorgniserregend sind auch die Rückschritte in Sachen Rechtsstaatlichkeit. Mitte November 2023 trat der Verfassungsrichter und ehemalige Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs Arturo Zaldívar von seinem Amt am Obersten Gerichtshof (SCJN) zurück, um unmittelbar danach dem Wahlkampfteam der Präsidentschaftskandidatin Claudia Sheinbaum beizutreten. Dieser Wechsel eröffnete Präsident López Obrador die Chance, noch in seiner Amtszeit die Besetzung einer der insgesamt elf Richterposten am Obersten Gerichtshof persönlich zu bestimmen. Insgesamt ist ein wachsender Druck auf die Judikative zu beobachten, etwa in Form von wiederholten verbalen Attacken von Regierungsstellen auf den Obersten Gerichtshof und Initiativen zur Schwächung der Autonomie von Gerichten. Teil einer im Februar 2024 vorgelegten Gesetzesinitiative des Präsidenten López Obrador ist in diesem Sinne auch die zukünftige Wahl von Richter*innen, u. a. des Obersten Gerichtshofs und von 60 Richter*innenposten des Bundesverwaltungsgerichts, per Volksabstimmung. Die gewählte Präsidentin Claudia Sheinbaum kündigte im Juni 2024 an, die Initiative zur Reform der Judikative weiterzuführen. Die Spannungen wurden zuletzt auch im Rahmen der geplanten Reform des Wahlinstituts (INE) und der Initiative zur Abschaffung des Nationalen Instituts für das Recht auf Informationen und Transparenz (INAI) deutlich.
Gewaltsames Verschwindenlassen
Die Zahl der Verschwundenen bewegt sich nach aktuellen Angaben bei über 114.000 Personen. In einem im Oktober 2023 veröffentlichen Bericht stellte der UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen fest, dass zunehmend Frauen und Kinder betroffen sind. Angehörige beklagen das mangelnde Engagement der Ermittlungsbehörden bei der Suche und Aufklärung sowie fehlenden Schutz bei ihren Suchaktionen. Gleichzeitig werden Angehörige vom Staat nicht als MRV anerkannt und können daher keine Maßnahmen aus dem staatlichen Schutzmechanismus beantragen. Der UN-Ausschuss äußerte in selbigem Bericht Sorge über die fehlende behördliche Anerkennung der Verantwortung staatlicher Akteur*innen und die Abwesenheit einer umfassenden Politik der Prävention und Bekämpfung des Verschwindenlassens. Im Dezember 2023 stellte Präsident López Obrador eine neue Strategie für die Suche verschwundener Personen vor, die jedoch u.a. eine Kürzung der Opferzahlen im Register vorsieht. Nur einen Monat später wurden zudem über 100 Angestellte der Nationalen Suchkommission (CNB) entlassen bzw. ihre Verträge nicht verlängert. Angehörige protestierten gegen die Neuerungen in der Suchstrategie und befürchten, dass die institutionelle Schwächung der CNB die Aufklärung und Verfolgung von etwaigen Fällen zusätzlich erschweren wird. Am 3. Juni 2024 traf sich der mexikanische Präsident erstmals seit September 2023 wieder mit den Familienangehörigen der 43 Studierenden der Hochschule Ayotzinapa. Laut staatlichen Angaben wurden den Angehörigen während des Treffens rund 15 Dokumente überreicht – zivilgesellschaftliche Organisationen hatten die Herausgabe von mehr als 800 Unterlagen vom mexikanischen Verteidigungsministerium gefordert. Die unabhängige interdisziplinäre Expert*innengruppe (GIEI) zur Untersuchung des Falls hatte im Juli 2023 ihren letzten Bericht vorgelegt, mit dem sie ihren Rückzug aufgrund der fehlenden Kooperation des Verteidigungsministeriums erklärte. Die Verhaftung und Anklage von mehreren Militärangehörigen haben die Aufklärung nicht signifikant vorangebracht. Die Selbstverpflichtung zur Aufklärung hatte sich Präsident López Obrador zu seinem Amtsantritt auferlegt und nicht eingehalten.
Situation von Menschenrechtsverteidiger*innen (MRV) und Journalist*innen:
MRV und Journalist*innen sind weiterhin erheblichen Risiken ausgesetzt. Nach Angaben des Büros des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte wurden seit Amtsantritt des derzeitigen Präsidenten bis Februar 2024 mindestens 103 MRV, 41 Journalist*innen und 7 Medienschaffende ermordet. Landrechts- und Umweltverteidiger*innen sind besonders betroffen: Nach zivilgesellschaftlichen Angaben war das Jahr 2023 mit 20 Tötungsdelikten das zweittödlichste für Menschen, die sich für den Zugang zu Land und den Schutz der natürlichen Ressourcen einsetzen. Eine Kollusion auf bundesstaatlicher Ebene zwischen Mitgliedern der organisierten Kriminalität, politischen Funktionär*innen und Sicherheitskräften, die unzureichende Strafverfolgung und Verurteilung von Täter*innen, die fehlende Anerkennung der Arbeit von MRV und Journalist*innen bis hin zur Diffamierung durch Regierungsstellen gehören zu den Hauptgründen für das Fortbestehen der Gewalt. In Mexiko existiert seit 2012 ein nationaler Schutzmechanismus für MRV und Journalist*innen. Seine Funktionsweise ist jedoch mangelhaft und bietet Betroffenen daher wenig bis kaum ausreichenden Schutz. Einige der ermordeten MRV und Journalist*innen befanden sich zum Zeitpunkt ihrer Ermordung im staatlichen Schutzmechanismus. Die 40 Empfehlungen, die im Rahmen des aktuellen UPR-Verfahrens Mexikos zwecks Verbesserung des Schutzes von MRV und Journalist*innen an die mexikanische Regierung ausgesprochen wurden, nahm letztere an.
Konkrete Anfragen bzw. Empfehlungen:
Wir bitten die Bundesregierung:
- die menschenrechtlichen Bedenken im Hinblick auf die zunehmende Militarisierung sowie den Abbauvon Rechtsstaatlichkeit und die gewaltsame interne Vertreibung in den Gesprächen mit der mexikanischen Regierung zu thematisieren und diesbezügliche internationale Initiativen im Einklang mit den entsprechenden dt. Empfehlungen im UPR-Verfahren zu unterstützen.
- die Notwendigkeit von Maßnahmen zur effektiven Aufklärung und strafrechtlichen Verfolgung von Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens unter Einbeziehung aller relevanten Behörden in Gesprächen mit der mexikanischen Regierung zu thematisieren und sich für die Umsetzung der Empfehlungen aus dem jüngsten Bericht des UN-Ausschusses gegen gewaltsames Verschwindenlassen, insbesondere im Hinblick auf die Anerkennung und Unterstützung suchender Familienangehöriger, sowie die Aufklärung des Falles der 43 Studenten aus Ayotzinapa einzusetzen.
- sich für die öffentliche Anerkennung und Unterstützung der Arbeit von MRV und Journalist*innen, die Gewährleistung ihres effektiven und nachhaltigen Schutzes in Abstimmung mit Betroffenen sowie die Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung der Angriffe einzusetzen. Darüber hinaus sollten regelmäßig Reisen, insbesondere in ländliche Gegenden, zwecks Besuchs von MRV durchgeführt werden.
- sich für die Bekanntmachung der drei Programmlinien der Elisabeth-Selbert-Initiative über die deutsche Botschaft vor Ort einzusetzen und die Rolle der deutschen Vertretung in Mexiko als Unterstützerin für MRV im Sinne der EU-Leitlinien zum Schutz von MRV auszubauen.
- dem Kernproblem der umfassenden Straflosigkeit in allen Gesprächsformaten mit der mexikanischen Regierung höchste Priorität einzuräumen sowie politische und technische Unterstützung für Multi- Stakeholder-Initiativen zur Schaffung von Best Practices in der Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen bereitzustellen.