Aide-Mémoire 2025: Menschenrechte in Mexiko & Handlungsempfehlungen

Gedenken an den in Chiapas ermordeten Pfarrer und Menschenrechtsverteidiger Marcelo Pérez Pérez. 2024 wurden in Mexiko 16 Menschenrechtsverteidiger*innen ermordet. Foto: Luis Enrique Aguilar / desinformémonos

Forum Menschenrechte veröffentlicht Aide-Mémoires

90 Analysen und Empfehlungen, konkret und auf den Punkt, Länder und Themen – darin zeigt sich die geballte Expertise der über 50 Mitgliedsorganisationen des Forum Menschenrechte. Diese „Aide-Mémoires“ beruhen auf den Erkenntnissen der Mitgliedsorganisationen und oft auch deren lokalen Partnerorganisationen in vielen Ländern der Welt. Sie werden jährlich erstellt und sind Grundlage der Advocacy-Arbeit des Forum Menschenrechte und seiner Mitgliedsorganisationen gegenüber dem Auswärtigen Amt und darüber hinaus.

Am 19. November 2025 wurde der Gesamtkatalog Außenminister Dr. Johann Wadphul und dem Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, Prof. Dr. Lars Castellucci persönlich übergeben.

Damit verbinden wir die Erwartung, dass nicht nur das Auswärtige Amt und die deutschen Botschaften vor Ort, sondern alle verantwortlichen Ministerien in ihrer Arbeit auf diese Analysen zurückgreifen und die Empfehlungen für eine kohärente und glaubwürdige deutsche Menschenrechtspolitik umsetzen.

Das Forum Menschenrechte hat den größten Teil dieser Aide-Mémoires hier online veröffentlicht.  Einige Aide-Mémoires werden aus Gründen des Schutzes von Menschenrechtsverteidiger*innen oder Partnerorganisationen vor Ort nicht veröffentlicht und bleiben vertraulich.

Wir veröffentlichen an dieser Stelle das Aide-Mémoire zur Menschenrechtssituation in Mexiko, eingebracht von Peace Brigades International (PBI), Misereor, Brot für die Welt, Amnesty International, in Zusammenarbeit mit der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko


Aide-Mémoire 2025: Situation der Menschenrechte in Mexiko & Handlungsempfehlungen

Organisationen: Peace Brigades International – Deutscher Zweig, Amnesty International Deutschland, Brot für die Welt und Misereor in Zusammenarbeit mit der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko.

Die menschenrechtlichen Herausforderungen sind im ersten Amtsjahr von Präsidentin Claudia Sheinbaum gewachsen. Nach offiziellen Angaben ist die Zahl der Tötungsdelikte 2024 gegenüber 2023 angestiegen und betrug 33.241. Menschenrechtsverteidiger:innen (MRV) und Journalist:innen sind mit Drohungen und Angriffen konfrontiert. Die Zahl der Verschwundenen wächst. Berichten zufolge fallen zehn Frauen und Mädchen pro Tag tödlicher Gewalt zum Opfer. Trotz des 2012 eingeführten Straftatbestands des Feminizids wurden nur 24,6 Prozent der 34.715 Morde an Frauen und Mädchen zwischen 2015 und 2025 als Feminizide klassifiziert und entsprechend untersucht. Die Straflosigkeit liegt weit über 90 Prozent. Im Global Peace Index 2025 steht Mexiko auf Platz 135 von 163 Ländern.

Rechtsstaatlichkeit

Die Regierungspartei MORENA verfügt seit September 2024 gemeinsam mit ihren Bündnisparteien PT und PVEM über eine Zweidrittelmehrheit im Kongress und kann somit Verfassungsreformen durchsetzen. Insbesondere hinsichtlich den am 1. Juni 2025 landesweit erstmalig durchgeführten direkten Wahlen von mehr als 800 Richter:innen einschließlich der des Obersten Gerichtshofs warnen kritische Stimmen der Zivilgesellschaft und internationaler Gremien vor den schwerwiegenden Folgen für die Unabhängigkeit der Justiz und Rechtsstaatlichkeit. Die Wahlbeteiligung lag bei 13 Prozent. Laut Kritiker:innen trage die Wahl der berechtigten Forderung nach einer gerechten und unabhängigen Justiz ohne Klientelpolitik und Korruption nicht Rechnung. Parallel dazu wurden seit 2024 mehrere autonome Institutionen wie z. B. das Nationale Institut für das Recht auf Informationen und Transparenz (INAI) abgeschafft. Andere wichtige Instanzen wie die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) kommen aufgrund der fehlenden Distanz zur Regierungspartei ihrer Aufgabe nicht ausreichend nach.

Militarisierung

Die von der Vorgängerregierung López Obrador verstärkte Militarisierung der öffentlichen Sicherheit und ziviler Sektoren setzt sich unter der Regierung Sheinbaum fort. Im Gegensatz zu anderen Teilen der öffentlichen Verwaltungen muss das Militär kaum Rechenschaft über Strukturen und Mechanismen ablegen. Dies führt nicht nur zur Straflosigkeit bei schweren Menschenrechtsverletzungen, sondern fördert auch Korrup­tion und makrokriminelle Netzwerke aus Beamt:innen der Streitkräfte, des Sicherheitsapparats und kriminellen Gruppen. Unterdessen erreichte die aktuelle Regierung, dass das Parla­ment im Juni 2025 die unter Ex-Präsident López Obrador geschaffene zivile Nationalgarde, trotz erheblicher Kritik von nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisatio­nen, endgültig dem Verteidigungsministerium unterstellte. Seit Gründung der Nationalgarde 2019 registrierte die CNDH bis April 2024 mindestens 1.912 Beschwerden aufgrund von Menschenrechtsverletzungen. Im Rahmen der Überprüfung Mexikos im UPR-Verfahren im Januar 2024 forderten diverse Staaten die mexikanische Regierung dazu auf, Maßnahmen im Zusammenhang mit den menschenrechtlichen Auswirkungen der Militarisierung zu ergreifen. Die Empfehlungen betreffen dabei u. a. die Demilitarisierung der öffentlichen Sicherheit bzw. den schrittweisen Rückzug der Streitkräfte aus zivilen Aufgaben und die Untersuchung von Fällen unrechtmäßiger Spionage gegen MRV und Journalist:innen mit der Software Pegasus.

Gewaltsames Verschwindenlassen

Die Zahl der Verschwundenen liegt nach offiziellen Angaben bei über 130.000 Personen. Im ersten Amtsjahr von Claudia Sheinbaum stieg sie laut zivilgesellschaftlichen Angaben mit 14.765 Verschwundenen um 16 % im Vergleich zum letzten Amtsjahr von Andrés Manuel López Obrador. Die forensische Krisensituation spiegelt sich in den inzwischen über 72.000 nicht identifizierten Toten wider. Angehörige beklagen das mangelnde Agieren der Behörden bei der Suche und den Straf­ermittlungen. Für ihr eigenes Engagement bei der Suche wer­den Familien diffamiert und bedroht. Laut Zivilgesellschaft ist 2025 mit mindestens sieben Morden das bisher tödlichste Jahr für suchende Angehörige. Anfang März 2025 stieß ein Familienkollektiv im Bundesstaat Jalisco auf Massengräber und ein mutmaßliches Ausbildungslager der organisierten Kriminalität, das offenbar auch als Exekutionsstätte diente. Frauen tragen die Hauptlast der Suche nach Verschwundenen und übernehmen Aufgaben von der Spurensuche in Massen­gräbern bis zur psychosozialen Unterstützung der Familien. Sie sind als MRV gezielt Bedrohungen, Gewalt, Diskriminierung und Kriminalisierung ausgesetzt, einschließlich sexualisierter Gewalt. Viele haben nur begrenzten Zugang zu Schutzme­chanismen, v. a. wenn sie nicht in leitenden Positionen sind. Die Risiken verschärfen sich zusätzlich für Migrant:innen, Frauen in marginalisierten Regionen und Indigene. Die Fa­milien erwarten, dass sich die im September 2025 neu be­rufene Leitung der staatlichen Suchkommission (CNB) un­abhängig von der Regierungspartei MORENA handelt und stärker als ihre Vorgängerin mit den Kollektiven kooperiert. Der Fall der 2014 verschwundenen 43 Studenten aus Ayotzi­napa ist auch nach elf Jahren nicht vollständig aufgeklärt. Die vom Ex-Präsidenten López Obrador ins Leben gerufene Wahr­heitskommission COVAJ stellte 2022 fest, dass es sich beim dem Fall Ayotzinapa um ein staatliches Verbrechen handelte, an dem Mitglieder krimineller Gruppen und Vertreter:innen verschiedener staatlicher Stellen beteiligt waren. Die von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission beauftragte unabhängige Expert:innengruppe GIEI hatte im Juli 2023 ihren sechsten und letzten Bericht zum Fall vorgelegt, mit dem sie ihren Rückzug aufgrund der fehlenden Kooperation des Ver­teidigungsministeriums erklärte. Seit ihrem Amtsantritt traf sich Präsidentin Sheinbaum mehrere Male mit den Familien­angehörigen und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Diese fordern nach wie vor die aktive Suche nach den Studenten, die Herausgabe von mehr als 800 Unterlagen vom mexikanischen Verteidigungsministerium und Ermittlungen gegen frühere Amtsträger:innen.

Situation von Menschenrechtsverteidiger:innen und Journalist:innen

MRV und Journalist:innen sind weiterhin erheblichen Risi­ken ausgesetzt. Nach Angaben des Büros des UN-Hochkom­missariats für Menschenrechte wurden 2024 16 MRV, sechs Journalist:innen und eine Medienschaffende ermordet. Nach zivilgesellschaftlichen Angaben hielt der Trend extremer Be­drohung für Menschen, die sich in Mexiko für Land- und Umweltrechte einsetzen, 2024 mit 19 Morden und Fällen von Verschwindenlassen an. Unzureichende Strafverfolgung und Verurteilung von Täter:innen, korrumpierte Mitarbeiter:in­nen von Behörden, Politiker:innen und kriminelle Gruppen, die unzureichende Anerkennung der Arbeit von MRV und Journalist:innen gehören zu den Hauptgründen für das Fort­bestehen der Gewalt. In Mexiko existiert seit 2012 ein staatli­cher Schutzmechanismus für MRV und Journalist:innen. Seine Funktionsweise ist mangelhaft und bietet Betroffenen kaum ausreichenden Schutz. Einige der Ermordeten befanden sich zum Zeitpunkt der Angriffe im Schutzmechanismus.

Gewaltsame interne Vertreibung

Im Jahr 2024 wurden Berichten zufolge an die 26.000 Per­sonen durch die Gewalt von kriminellen Gruppen, andere Konflikte und Naturkatastrophen vertrieben. Betroffen sind indigene, ländliche Gemeinden sowie MRV und Journa­list:innen. Insgesamt wird die Zahl der Vertriebenen auf über 390.000 geschätzt, allerdings gibt es aufgrund der fehlenden Anerkennung des Problems durch die Regierung kein Gesetz gegen Vertreibung und kein staatliches Register. Die deutsche Regierung hatte Mexiko im UPR 2024 die Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes empfohlen.

Wir bitten die Bundesregierung,

  • die menschenrechtlichen Bedenken im Hinblick auf die zunehmende Militarisierung sowie den Abbau von Rechts­staatlichkeit und die gewaltsame interne Vertreibung in Gesprächen mit der mexikanischen Regierung zu thema­tisieren und diesbezügliche internationale Initiativen im Einklang mit den entsprechenden deutschen Empfehlun­gen im UPR-Verfahren zu unterstützen;
  • die Notwendigkeit von Maßnahmen zur effektiven Auf­klärung und strafrechtlichen Verfolgung von Fällen ge­waltsamen Verschwindenlassens mit der mexikanischen Regierung zu thematisieren und sich für die Umsetzung der Empfehlungen des UN-Ausschusses (CED), insbeson­dere im Hinblick auf die Anerkennung und den Schutz suchender Familienangehöriger, sowie die Aufklärung des Falles der 43 verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa einzusetzen;
  • die Anerkennung von Frauen, die die Suche nach Ver­schwundenen anführen, als MRV zu thematisieren und deren Schutz sowie Unterstützung sicherzustellen;
  • sich für die öffentliche Anerkennung von MRV und Journalist:innen, die Gewährleistung ihres nachhaltigen Schutzes in Abstimmung mit den Betroffenen sowie die Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung der Angriffe ein­zusetzen und die Rolle der deutschen Vertretung in Mexiko als Unterstützerin für MRV im Sinne der EU-Leitlinien zum Schutz von MRV weiter auszubauen;
  • sich für die Bekanntmachung der drei Programmlinien der Elisabeth-Selbert-Initiative über die deutsche Botschaft vor Ort einzusetzen und die angekündigte Ausweitung der Hannah-Arendt-Initiative unter Beteiligung der Zivil­gesellschaft umzusetzen;
  • sich in Gesprächen mit der mexikanischen Regierung für die Umsetzung der im Juli 2025 durch den UN-Aus­schuss für die Beseitigung der Diskriminierung von Frauen (CEDAW) ausgesprochenen Empfehlungen an Mexiko einzusetzen, die sich insbesondere auf die Bekämpfung der Gewalt und Feminizide an Frauen und Mädchen und LGBTIQ+ beziehen;
  • dem Kernproblem der umfassenden Straflosigkeit in al­len Gesprächsformaten mit der mexikanischen Regierung höchste Priorität einzuräumen sowie politische und tech­nische Unterstützung für Multi-Stakeholder-Initiativen zur Schaffung von Best Practices in der Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen bereitzustellen.



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